West Side Story Selection
oder: (Wie) geht multikulturelles Zusammenleben?
Mythen und Märchen enthalten mehr gesellschaftlichen und politischen Sprengstoff, als man zunächst denken mag. Sei es das Thema von Armut, Reichtum und Gerechtigkeit, das Hänsel und Gretel antreibt, oder seien es die kapitalismuskritischen Untertöne im nur vordergründig heiter-beschwingten Disney-Film „Mary Poppins“.
Besonders deutlich tritt der gesellschaftspolitische Hintergrund im Musical „West Side Story“ in Erscheinung, einem Gemeinschaftswerk des Choreographen und Produzenten Jerome Robbins, der Autoren Arthur Laurents (Buch) und Stephen Sondheim (Songs) und des Komponisten Leonard Bernstein. Das Musical lässt die ewig tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia im New York der 50-er Jahre neu lebendig werden. Die Liebenden heißen hier Tony und Maria und gehören unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen an, in denen sich zwei Jugendbanden gebildet haben: die Jets (für die weißen Jugendlichen) und die Sharks (aufseiten der jungen puerto-ricanischen Einwanderer). Es brodelt, der Bandenkrieg eskaliert bis hin zur tödlichen Messerstecherei. Leider erst, nachdem Tony erschossen in Marias Armen liegt, verstehen die Jugendlichen und tragen seinen Leichnam gemeinsam davon.
Die Frage des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen ist nicht nur in den Vereinigten Staaten uneingeschränkt aktuell. Und die bittere Erfahrung, dass oft erst Schlimmes passieren muss, bevor Menschen bereit und fähig sind, sich aus hoch eskalierten Konflikten zu lösen, macht den Romeo-und-Julia-Stoff so zeitlos.
Leonard Bernstein (1918-1990) ist selbst Kind eines russischen jüdischen Einwanderers. Seine musikalische Karriere beginnt mit einem Musikstudium an der Harvard-Universität, das er sich gegen die Bedenken seines Vater erkämpfen muss. Sein Ziel ist es, Pianist zu werden, dann wird er aber früh mit diversen Dirigaten beauftragt, entwickelt sich als Dirigent und Komponist. Heute würde man ihn auch einen „Musikvermittler“ nennen: Mit der beliebten Fernsehserie „Young Peoples Concerts“ (Konzerte für junge Leute) leistet er mit dem New York Philharmonic Orchestra einen wichtigen und modernen Beitrag zur musikalischen Bildung.
Seine Opern und Musicals greifen sowohl kulturelle Themen, z.B. des jüdischen Lebens in Amerika, wie auch höchst aktuelle politische Konflikte, so z.B. das Musical „1600 Pennsylvania Avenue“, mit dem er die Nixon-Ära und die Watergate-Affäre beleuchtet. Das Werk stößt nicht auf die Gegenliebe des Publikums und Bernstein wird u.a. als Rassist beschimpft.
Die „West Side Story“ ist im Gegensatz dazu von Anfang an ein großer Publikumserfolg. Musikalisch besticht vor allem die Verbindung unterschiedlichster Musikstile: Der Komponist vereint verschiedene Jazzrichtungen, Strömungen der klassischen Oper und lateinamerikanische Tanzmusik. Die Jugendgangs werden musikalisch charakterisiert: die Jets durch schräge, dissonante Jazztöne, hektisch-treibende Rhythmen, Synkopen und abgerissene Melodien im Stil des „Progressive Jazz“, die Sharks dagegen durch lateinamerikanische beschwingt-tänzerische Rhythmen, Hemiolen, eine weiche Tongebung und den Klang eines großen Unterhaltungsorchesters mit lateinamerikanischen Perkussionsinstrumenten. – Die Kontraste illustrieren den Konflikt, machen aber das Musical auch zu einem faszinierenden und abwechslungsreichen musikalischen Erlebnis. So schafft Bernstein eine Synthese unterschiedlicher musikalischer Stile, die mehr ist als nur die Summe ihrer Bestandteile. Die West Side Story in ihrer Vielfalt wird zum überzeugenden Argument gegen die Behauptung einiger, Kulturen könnten sich nur unvermischt, am besten getrennt voneinander entwickeln.
Hier schließt sich auch der Kreis zum Thema „Laienmusik“. Bernstein schreibt am 8. Juli 1957 in sein „Logbuch“ zur Probenarbeit:
„Auf der Bühne haben sich wirklich vierzig Jugendliche an die Arbeit gemacht! Vierzig Jugendliche, die nie zuvor gesungen haben, singen nun fünfstimmig und klingen himmlisch! Es war richtig, keine Berufssänger einzusetzen, alles was professioneller klingt, muss unweigerlich auch erfahrener, wissender wirken, und damit wäre die jugendliche Frische dahin.“