Fantasieouvertüre „Romeo und Julia“
oder: Kann die Liebe der Feindschaft ein Ende setzen?

Mit dieser Frage greift William Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ ein Thema auf, das schon in den antiken und mittelalterlichen Sagen immer wieder bearbeitet worden war: Das Motiv der durch widrige Umstände verhinderten Liebe.

Die wie Romeo und Julia durch den Zwist ihrer Familien getrennten babylonischen Liebenden Pyramus und Thisbe stürzen sich ins Schwert und werden schließlich gemeinsam begraben. In der griechischen Mythologie findet die Liebe der Priesterin Hero ihr bitteres Ende, als sie die Leiche ihres Geliebten Leander am Strand des Hellespont (heute: Dardanellen) entdeckt, der Griechenland von Kleinasien (der heutigen Türkei) trennt. Wieder einmal hatte er die nächtliche Meerenge durchschwommen, um zu ihr zu gelangen. Aber ein Sturm hat das Leuchtfeuer ausgelöscht, das die Geliebte zu seiner Orientierung aufgestellt hatte, und er ertrinkt. Verzweifelt stürzt Hero sich in den Tod.
Auch die unglückliche Liebe von Tristan und Isolde endet mit dem Tod der Liebenden.
Auch mit Romeo und Julia soll es kein gutes Ende nehmen: Sie gehören tief verfeindeten Familien an. Ihre Liebe ist aussichtslos. Wo Familienmitglieder der Capulets und Montagues aufeinanderstoßen, kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen bis aufs Blut.
Aber bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt: Bruder Lorenzo, der Romeo und Julia trotz allem heimlich traut, träumt davon, die verfeindeten Familien durch diese Bindung miteinander zu versöhnen. Es wird ihm nicht gelingen. Erst nach dem Suizid beider Liebenden lassen sich die Familien zu Schritten der Versöhnung bewegen. Für Romeo und Julia ist das zu spät.

Peter Iljitsch Tschaikowskis (1840 – 1892) Fantasieouvertüre „Romeo und Julia“, uraufgeführt 1870 in Moskau, findet zwar nicht sofort die Gegenliebe der Musikkritik, gilt aber heute als sein erstes Meisterwerk. Die Fantasieouvertüre ist auch das erste Stück Tschaikowskis, das im Ausland aufgeführt wird.

Wer möchte, kann aus der Ouvertüre konkrete Motive des Shakespeare’schen Dramas heraushören: Eine Choralmelodie, die an Pater Lorenzo erinnert, eine gesangliche Melodie, in der sich die Sehnsucht der Liebenden widerspiegelt, aggressiv-kämpferische Passagen, die Assoziationen an wütende Fechtkämpfe wecken, und verzweifelte Klänge, die das tragische Ende der beiden Liebenden spüren lassen.

Dennoch ist es ausdrücklich nicht Tschaikowskis Absicht, das Drama musikalisch nachzuerzählen, wie es ein Stück Programmmusik täte. Im Gegenteil. Er fühlt sich zur „absoluten“ Musik hingezogen, zu einer abstrakten, westeuropäischen Musiksprache. Beim Komponieren der Fantasieouvertüre folgt er nicht der Abfolge der Erzählung, sondern strengen kompositorischen Regeln, um so das Seelendrama, die Spannung der widerstreitenden Gefühle als solche herauszuarbeiten.

Tschaikowski bemüht sich in dieser Zeit auch im „realen Leben“ um Ausgleich in einem sich anbahnenden Konflikt zwischen Russlands Komponisten. Auf der einen Seite stehen mit der „Gruppe der Fünf“ die Komponisten Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow, die sich einer nationalrussischen Musik in der Nachfolge Michail Glinkas verschrieben haben. Auf der anderen Seite die sogenannten „Westler“: russische Komponisten, die sich an westeuropäischen Vorbildern orientierten und denen Tschaikowski sich zugehörig weiß.

Als die Großfürstin Helena Pavlovna, selbst ebenfalls westlich orientiert, Öl ins Feuer gießt, indem sie Mili Balakirew aus der „Russischen Musikgesellschaft“ ausschließt, schlägt sich Tschaikowski, in der Öffentlichkeit, nämlich als Musikkritiker der „Moskauer Nachrichten“ auf Balakirews Seite. Er hält die Verbindung und schlägt eine Brücke, indem er Balakirew seine Fantasieouvertüre „Romeo und Julia“ widmet.

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