Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 7: „In meinen Tönen spreche ich“
„Da ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler Schatten“, staunte der Chirurg Theodor Billroth, als er die im Sommer 1877 im idyllischen Pörtschach am Wörthersee in einem Rutsch entstandene 2. Sinfonie seines Freundes Johannes Brahms (1833 – 1897) zum ersten Mal hörte.
Brahms selbst dagegen scherzte in einem Brief an seinen Verleger Simrock, die neue Sinfonie sei so traurig, dass die Partitur mit Trauerrand erscheinen müsse.
Schon Robert und Clara Schumann hatten beim Besuch des 20-jährigen Brahms in Düsseldorf festgestellt, dass „sein ganz geniales Spiel aus dem Klavier ein Orchester von weh klagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren (...) verschleierte Sinfonien, - Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht (...) Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alles wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet.“
Diese Schilderung passt auch ganz gut auf die Sinfonie des inzwischen 44-jährigen Meisters, der erst im Vorjahr nach langem Ringen mit der klassischen Form und dem Beethovenschen Erbe endlich seine erste Sinfonie vollendet hatte.
Inzwischen konnte er ohne Festanstellung gut von seiner Musik leben, im Winter als Pianist und Dirigent auftreten und im Sommer inmitten seiner geliebten Natur in Ruhe komponieren.
Aufgewachsen als Sohn eines Kontrabassisten im dunklen, überbevölkerten Hamburger Gängeviertel hatte der begabte Johannes großes Glück mit seinen Lehrern Otto Cossel und Eduard Marxsen, die ihn beide undogmatisch förderten, ohne ihn einzuengen.
Die Ausbildung war technisch wie musikalisch ungewöhnlich breit und reichte von der Musik des 16. Jahrhunderts über Bach und Beethoven bis zu den neuesten Virtuosenstücken. Ihn interessierte aber vor allem die „Alte Musik“ mit ihren selbständigen Stimmen, Kontrapunkttechniken und interessanter Harmonik.
Johannes schrieb Arrangements für das Orchesterchen seines Vaters, das jeden Tag von 6-11 Uhr abends im Alster-Pavillon ein gutbürgerliches Publikum unterhielt. Klavier spielte er bei seinen Lehrern, bei Klavierhändlern, bei Bekannten und in kleineren Kneipen. Mit dem verdienten Geld legte er sich eine gediegene Bücher- und Notensammlung an. Während er Tanzmusik spielte, las er sich von Ritterromanen zu Schiller, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann durch.
1853 begleitete er den 1848 aus Ungarn geflohenen Geiger Eduard Remenyj durch Norddeutschland und lernte dabei Joseph Joachim kennen, für den er später sein Violinkonzert schreiben sollte. Joachim machte ihn mit einflussreichen Musikern und bürgerlichen Mäzenen bekannt und brachte ihn zu Schumanns nach Düsseldorf.
Robert Schumanns überschwänglicher Artikel „Neue Bahnen“ in seiner Musikzeitschrift machte Brahms zwar schnell bekannt, stimmte die Zuhörer aber nicht gerade freundlich und setzte den ohnehin perfektionistischen jungen Komponisten schwer unter Druck. Kein Wunder also, dass es bis zu den Sinfonien so lange dauern sollte, ein großes Wunder aber, dass Brahms seinen ganz eigenen Ton unbeirrt von musikalischem Parteiengezänk entwickeln und bewahren konnte.
Über Pörtschach schreibt er an den Kritiker Hanslick, dass dort „so viele Melodien um einen herumfliegen, dass man achtgeben muss, um nicht auf sie zu treten.“
Alle Sätze der 2. Sinfonie beginnen leise, der erste sanft in der Tiefe mit Cello und Kontrabass, darüber entfaltet sich eine wiegende Bläserharmoniemusik. Allmählich treten immer mehr singende Stimmen hinzu, es wird rhythmisch lebhafter.
Das 2. Thema wird vielleicht manchem bekannt vorkommen. Es ähnelt dem Volkslied „Guten Abend, gut Nacht“. Ältere denken aber dabei möglicherweise auch an den Nordwestdeutschen Rundfunk, später NDR, dessen Pausenzeichen das lange gewesen ist. Danach wird es mit einem zackigen Signalthema dramatischer.
Mit den Motiven wird nach allen Regeln der Kunst gespielt, man wirft sich die Bälle zu, singt im Kanon, erfindet neue Fortspinnungen. So entsteht ein sehr dichter Satz, der aber immer kammermusikalisch durchhörbar und klar bleibt. Alles fließt ganz natürlich. Man wird zum genauen Zuhören verführt, aber nicht zugedröhnt.
Typisch für Brahms ist dabei, dass häufig der Taktschwerpunkt verschleiert wird. In diesem eigentümlichen Schwebezustand scheint die Zeit stehen zu bleiben.
Besonders außergewöhnlich beginnt der 2. Satz mit einem Zwiegesang von Fagotten und Violoncelli, die beide nachdenkliche Fragen stellen, die Fagotte in Aufwärtsbewegung, die Celli abwärts. Dafür dürfen sie sich dann ausführlich aussingen. Dann dreht sich das Ganze um, die ersten Geigen aufwärts, die dunklen Streicher abwärts. Wenn Sie hier einen Taktschwerpunkt hören, sind Sie garantiert auf dem Holzweg.
Im Laufe des Satzes steigert sich der melancholische Grübler in immer wildere Gedankengänge, wobei die gleichzeitige Auf- und Abwärtsbewegung bleibt, bis sich schließlich alles beruhigt.
Geweckt wird der Träumer im 3. Satz durch ein gemütliches Tänzchen im Dreiertakt mit einem Hüpfer auf dem 3. Taktteil, begleitet von gezupften Bassfiguren, an denen Vater Brahms seine Freude gehabt haben dürfte. Unvermittelt huscht dann ein leiser Geisterspuk mit Akzenten auf der Unzeit vorbei.
Das Tänzchen geht aber wieder ruhig aus und mündet in das mit den Streichern ebenfalls ganz leise beginnende Finale. Hier scheinen sich alle Motive der Sinfonie zu einem großen gemeinsamen Gesang versammelt zu haben, die Bläser antworten wieder mit einer Melodie in Gegenrichtung usw.
Dann bricht endgültig der fröhliche Tumult los und spätestens beim Trompetengeschmetter des furiosen Schlusses dürften sich die letzten Reste des „Trauerrandes“ in Luft aufgelöst haben.