Symphonie d-Moll

Schienennetz, die Markthallen und schließlich der Eiffelturm errichtet für die große Weltausstellung 1889 zum 100-jährigen Jubiläum der Revolution prägten das Stadtbild. Verständlich, dass man sich in so bewegten Zeiten nach bewährten Ordnungsprinzipien der „guten alten Zeit" sehnte. Die Neubauten nahmen sich die griechische Klassik, die Gotik oder die Romanik zum Vorbild. In der Musik entdeckte man die französischen Clavecinisten Couperin und Rameau neu. Suiten von alten Tanzsätzen in neuem Klanggewand wurden modern.

Paris war eine Stadt der Oper, das Palais Garnier das größte Theater der Welt. Instrumentalund Kammermusik hatten dagegen keine große Tradition, wenn auch Francois­ Antoine Habeneck, Sohn eines Geigers aus Mannheim, mit seinem Studentenorchester am Konservatorium alles dafür tat, die Beethoven-Sinfonien bekannt zu machen. Die Organisten entdeckten derweil den ,,alten" Bach neu.

Auch Cesar Franck hatte deutsche Wurzeln. Sein Vater stammte aus Gemmenich (heute Belgien), ging in Aachen zur Schule und heiratete dort Maria Barbara Frings. Die beiden
ließen sich in der nächstgrößeren Stadt Liege nieder, in der Cesar Franck 1822 geboren wurde. Er und sein jüngerer Bruder Joseph, der Geige spielte, waren so auf­ fällig musikalisch begabt, dass ihr Vater für sie eine Wunderkindkarriere anstrebte.

1835 zogen sie in die Weltstadt Paris und Cesar bekam Privatunterricht bei Anton Reicha, der ebenfalls Lehrer von Liszt, Berlioz und Gounod war. Bei ihm lernte Franck nicht, wie üblich, Harmonielehre und Kontrapunkt getrennt, sondern beides als organische Einheit, was ihn entscheidend prägen sollte. Ans Konservatorium konnte er als Ausländer erst 1837 wechseln, nachdem sein Vater endlich die Einbürgerung bekommen hatte.

Für seine Improvisationskunst war er bald berühmt-berüchtigt, versank völlig in der Musik, und fand kein Ende; es konnte ihm nicht kompliziert genug sein. Zur weiteren Förderung der Karriere zog die Familie 1842 nach Brüssel. Dort lernte er Franz Liszt kennen. Als reisender Virtuose blieb der große Erfolg allerdings aus. So kehrte er nach Paris zurück und schlug sich als Klavierlehrer und Organist durch.

Mitten in der Februarrevolution 1848 heiratete er, gegen den Willen seines Vaters, seine Schülerin Felicite Desmousseux. Es folgten schwere Zeiten; denn es gab andere Sorgen als Klavierunterricht zu nehmen. Immerhin wurde Franck 1858 Organist an der neuen großen neogotischen Kirche St. Clotilde. Hier gab es eine Orgel des berühmten Aristide Cavaille-Coll , die wie ein großes Sinfonieorchester klang und auch stufenweise Änderungen der Lautstärke möglich machte. Dies gelingt bei der Orgel nur durch Zuschalten oder Wegnehmen ganzer Pfeifenreihen (Register). Cavaille-Coll gelang das Kunststück, dass die Klangfarbe dabei im Wesentlichen erhalten blieb. Seine Orgeln sind bis heute Vorbild und Maßstab. Franck konnte mit dieser Orgel nach Herzenslust Klangexperimente fabrizieren, gestalten und Erfahrungen sammeln. Jede freie Minute nutzte er zum Komponieren. In seinem „Grande piece symphonique" für die Orgel von 1862 er­ kundet er auch schon die Formprinzipien, die wir später in seiner Sinfonie wiederfinden werden: die dreiteilige Form und die Verbindung von klassischer Sinfonie und freier Fantasie.

Um Franck sammelte sich allmählich ein großer Schülerkreis: die „Bande a Franck", sodass er 1872 zum Lehrer am Konservatorium berufen wurde, ohne sich jemals beworben zu haben. Er prägte eine ganze Generation von Musikern: Vincent d' Indy, Ernest Chausson, Henri Duparc, Gabriel Pie rne, Guillaume Lekeu und viele andere.

Nach der traumatischen Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg (1870) war Franck 1871 Mitbegründer der „Societe Nationale de Musique", die sich zur Aufgabe machte , eine von deutschen Einflüssen , vor allem vom „Wagnerismus" unabhängige französische Musik zu schaffen. Franck war tief beeindruckt, als er 1874 das Vorspiel zu Wagners Tristan hörte, vor allem von der emotionalen Wucht dieser Musik. Vermutlich wird er die Machart sehr genau studiert haben und übernahm vieles. Die durch dieses Erlebnis ausgelöste kreative Phase hielt bis zu seinem Tode an.

Angeregt durch Gedichte schrieb er weg­ weisende symphonische Dichtungen: „Les Eolides" und „Psyche" sowie die berühmte Violinsonate und 1887 die Symphonie d-Moll. 1890 folgten noch seine letzten 3 großen Orgelchoräle. Im Mai 1890 verstarb er an den Spätfolgen eines Unfalls, bei dem ihn die Deichsel eines Pferdeomnibusses gerammt hatte.

Die d-Moll-Sinfonie ist somit das voll­ endete Spätwerk eines langsam gereiften Meisters. Allerdings wurde sie von vielen Zeitgenossen zunächst nicht verstanden: „ Was ist das far eine d-Moll Sinfonie, bei der das erste Thema im 9. Takt nach des, im 10. nach ces, im 21. nachfis, im 25. nach c, im 39. nach es, im 49. nach f moduliert?" , bemängelte der Direktor des Konservatori­ ums Ambroise Thomas.

Einige (Bergheimer) Musiker fragten sich das zum Beginn der Proben auch, schon das Lesen der Noten in den wechselnden Tonarten ist nicht ganz einfach. Den Hörer braucht das zum Glück nicht zu kümmern. Er kann sich ganz dem emotionalen Strom der Musik hingeben.

,,Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf; eine Welt, in der er alle durch Begriffe bestimmbaren Gefahle zurücklässt, um sich dem Unaussprechlichen hinzugeben." (E.T.A. Hoffmann).

Franck wusste sehr genau, dass er seine musikalische Fabulierlust/-kunst in ein strenges Formkonzept bringen musste, die überlieferten Formen dafür aber nicht mehr ausreichten. Er entschied sich daher für eine dreiteilige Form als Urbild der Vollkommenheit und für ein sorgfältig geplantes Tonartenkonzept. Dazu vertraute er auf ein Publikum, das wirklich zuhören will, denn seine Sinfonie beginnt nicht mit einem Paukenschlag , sondern mit einer verhaltenen Frage , die ganz leise von den tiefen Streichern gespielt aus dem Nichts entsteht. Diese drei Töne sind die Keimzelle für alles Folgende: ein Halbtonschritt nach unten, ein Sprung nach oben mit harmonischer Sprengkraft, ein punktierter Rhythmus - daraus entwickelt sich organisch alles Weitere. Die Frage wird wiederholt, geht in eine kleine Melodie über, die Bläser testen aus, wohin sie harmonisch führen kann.

Nun erobert der punktierte Rhythmus die Melodie, Halbtonschritte aufwärts und abwärts werden ausprobiert, mal gebunden, mal mit schnellem „zitterndem" Tremolo der Streicher, die eine flirrende Unruhe verbreiten. Sodann bricht der Tumult los. Das Anfangsmotiv ist zum kämpferisch her­ umspringenden Thema geworden, Bläserakkorde fahren dazwischen, der Träumer ist endlich aufgewacht. Dabei bleibt es jedoch nicht. Man kann das Thema auch sanft, gebunden und leise spielen fast bis hin zum Stillstand; die Stimmungen wechseln beständig, werden fortwärten schneller, bis alles wieder ganz von vorne beginnt, dann auf einer höheren Tonstufe.

Mit dem 2. Thema gewinnt die Melodie die Oberhand (alles aus dem Anfangsmotiv entwickelt), die Instrumente dürfen sich aussingen; es entwickelt sich eine große Steigerung, wobei alle Motive nacheinander oder übereinander geschichtet und sich weiter entwickelnd durchgänging auftauchen. In großen Wellenbewegungen kommt die Musik immer wieder zur Ruhe - bis zur vollkommenen Stille. Nach der letzten großen Steigerung am Schluss des Satzes verliert sich die bange Frage vom Anfang in lichten Höhen.

Im 2. Satz holen sanfte Harfenklänge den Hörer auf die Erde zurück. Die Kombination von Harfe und zupfendem Streichorchester erzeugt eine ganz besondere Klangwirkung, sozusagen wie eine Doppelharfe. Dazu tritt ein melancholischer Gesang des Englischhorns, der größeren, warm und tief klingenden Schwester der Oboe. (Der Name kommt vom französischen „cor angle", abgewinkeltes Horn).

Übernommen wird die schwärmerische Melodie von Klarinette und Horn, die wie ein Instrument klingen, auch eine der Orgel abgelauschte Mischung. Die Bläser versuchen, ihren Gesang gegen immer aufgeregter werdende Wellenbewegungen der Streicher durchzuhalten, bis das Englischhorn in mehreren Anläufen vergeblich versucht, seinen anfänglichen Gesang wieder aufzunehmen .

Stattdessen beginnt es im Untergrund beunruhigend zu grollen: Die ersten Geigen spielen (mit Dämpfer) ein nach Orientierung suchendes Tremolomotiv, die zweiten Geigen folgen. Daraus entwickelt sich eine Art Fugato, eine schmerzlich punktierte Melodie tritt dazu, bis das Englischhorn, diesmal zusammen mit der Klarinette, versucht, seine Melodie gegen den grollenden Untergrund durchzusetzen. Offensichtlich erfolgreich, denn die Begleitfiguren entspannen sich zu sanften Wellen, der Nebel lichtet sich am Schluss und löst sich mit den letzten aufsteigenden Harfentönen m reinen B-Dur-Wohlklang auf.

Hämmernde Streicherfiguren und starke Bläserfanfaren setzen der Grübelei im 3. Satz abrupt ein Ende. Celli und Fagotte beginnen einen triumphierenden, weit ausgreifenden und allmählich anschwellen­ den Gesang, der das ganze Orchester er­ greift. Nach jedem Höhepunkt beginnt die Musik aber wieder in der Tiefe aus der Stille, wobei jede Stimme ihrer eigenen Melo­ die folgt. Die Linien wachsen wie Lianen, die sich umschlingen und letztlich zu einem großen Organismus auswachsen. Ein Wunder, dass dabei kein undurchdringlicher Dschungel entsteht, sondern alles durch­ sichtig und -hörbar bleibt. Dem Formwillen des versierten Altmeisters und der französischen „clarte" sei Dank! Dabei tauchen auch die wichtigsten Themen aus dem 1. und 2. Satz wieder auf. Die Harmonik wird durch unaufgelöste Akkordketten bis an die Grenze geführt.

Am Ende schließt sich der Kreis mit der abgewandelten Wiederkehr der Anfangsfrage, die jetzt gelassener als harfenbegleiteter Choral auftritt. Die Sinfonie ist mit einer großen Schlusssteigerung, wie es sich gehört, im siegreichen D-Dur angekommen. Die Reise ,,durch Nacht zum Licht" ist beendet.

Ein dem Schicksal abgerungener trotziger Sieg des Guten - oder wenigstens der Utopie davon vergleichbar bei Beethoven - ist es jedoch trotzdem nicht. Bei Franck ist - wie im richtigen Leben - immer alles gleichzeitig und im schnellen Wechsel vorhanden; vieles ist ambivalent und muss ständig neu bedacht und bewertet werden. Kein Wunder, dass er damit seinen Nachfolgern die Türen zur Modeme weit öffnete. Er stellt die Überlieferung nicht grundsätzlich in Frage, lotet sie ausnahmslos bis an die Grenzen aus. Auch der emotionale Gehalt ist keineswegs altersweise und abgeklärt, sondern sehr leidenschaftlich in ständigem Schwanken zwischen Schmerz und Freude. Viele Melodien changieren ständig zwischen Dur und Moll.

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