Sinfonie Nr. 8
Antonín Dvořák, Gastwirtssohn aus einem kleinen Ort an der Moldau, war zwar durchaus ein gebildeter Mann – er hatte die deutsche Stadtschule in Zlonice und die Orgelschule in Prag besucht – blieb aber sehr bodenständig. Man muss nicht studiert haben, um seine Sprache zu verstehen.
Im Juni 1891 erhielt er nach der Ehrendoktorwürde der Prager tschechischen Universität denselben Titel auch in Cambridge, ein Zeichen, dass er sich auch international durchgesetzt hatte. Zum Glück für uns hielt er die übliche Vorlesung auf musikalische Art in Form seiner neuen 8. Sinfonie.
Sie wird daher manchmal auch „englische“ Sinfonie genannt. Englisch spricht sie aber nicht, obwohl Dvořák sich durchaus bemüht hat, diese Sprache zu lernen. Seine Musik spricht von Stimmungen und Erfahrungen, die jeder kennt, natürlich – wie auch sein Englisch – mit starkem tschechischen Akzent.
Dvořák hatte sich in Prag mühsam als Bratscher, Klavierlehrer und Organist durchkämpfen müssen. Den internationalen Durchbruch schaffte er mit der tatkräftigen Hilfe von Johannes Brahms, der ihn mit dem Verleger Simrock zusammenbrachte und Dvořáks große Familie (5 Kinder) auch privat unterstützte.
Nach der ersten Englandreise 1884 mit erfolgreichen Konzerten und dadurch wachsenden Erlösen aus gedruckten Noten war Dvořák endlich finanziell so gut abgesichert, dass er von seinem Schwager in Südböhmen ein kleines Landgut als Sommersitz kaufen konnte. In „Vysoká“ fand er die schöpferische Ruhe und Inspiration für neue größere Werke, denn er arbeitete auch dort unermüdlich. Jeden Morgen stand er um 4 Uhr auf. In der Stadt ging er gewöhnlich zum Bahnhof, um die Züge zu beobachten. In Vysoká machte er Spaziergänge, hörte den erwachenden Stimmen der Natur zu und spielte in der Frühmesse in der Dorfkirche die Orgel. Daneben pflegte er den Garten, baute Kartoffeln an und versorgte die Tiere: Tauben, Hasen, Ziege und Kuh.
1889 hatte er gerade seine Oper „Die Jakobiner“ vollendet, die in Prag am 12. Februar mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. In den letzten beiden Jahren beschäftigte er sich überwiegend mit der Umarbeitung älterer Werke, darunter die Sinfonien 2 - 5, die noch immer wenig bekannt waren. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Dvořák schien mit 46 Jahren, vielleicht ausgelöst durch den Tod seines 2 Jahre jüngeren Bruders und einiger gleichaltriger Freunde, über die Vergänglichkeit nachzudenken. Bei der Rückschau bekam er Lust, der nächsten Sinfonie eine ganz neue Richtung zu geben. Möglicherweise spielte dabei auch die Freundschaft mit Peter Tschaikowsky eine Rolle, der in Prag 1888 mehrere Konzerte dirigierte. Dvořák lernte dabei dessen neue 5. Sinfonie und die Oper „Jewgenij Onegin“ kennen.
Im Frühjahr 1889 schreib Antonin Dvořák „Poetische Stimmungsbilder für Klavier“. „Jedes Stück wird einen Titel haben und soll etwas ausdrücken, also gewissermaßen Programmmusik, aber im Sinne Schumanns ...“ Bei Schumann ist die Poesie keine Zutat von außen, sondern eine Qualität der Musik selbst, also „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“, wie Beethoven das genannt hat. In diesem Sinne ist die 8. Sinfonie Programmmusik – nur hat uns der Komponist das Programm nicht verraten. Schon nach der ersten Aufführung in London im April 1890 schrieb ein Kritiker in der Musical Times: „Es ist hier unmöglich, nicht zu fühlen, dass die Musik versucht, sehr verständlich von Geschehnissen außerhalb ihrer selbst zu sprechen.“ Wovon aber spricht sie? Ganz sicher kommen darin vor: die Stimmen und Stimmungen der Natur, die vitale Volksmusik und Geschichte seiner tschechischen Heimat, die Wechselfälle des menschlichen Lebens und jede Menge Lebensfreude, die trotz allem immer die Oberhand behält. Gespür dafür, dass die Kulissen der alten Ordnung überall ins Wanken geraten sind, ist sicher auch dabei. Unterhalb der schönen Melodie gibt es viel Bewegung, auch subversiven Humor.
Die klassische Sinfonieform ist sehr gelockert, die gegensätzlichen Stimmungen der Themen wechseln sehr schnell und sprunghaft, manchmal existieren sie auch gleichzeitig in verschiedenen Stimmen. Seinen Schülern am Prager Konservatorium brachte er vor allem bei: „Der Komponist ist für jede Stimme im gleichen Maße verantwortlich. Manchmal ist eine Mittelstimme sogar wichtiger als die Hauptstimme.“ Dvořák hatte als Bratscher lange genug im Unterhaltungs- und Theaterorchester gesessen, um genau zu wissen, was die einzelnen Instrumente können. Außerdem hat er immer alle erreichbaren Partituren akribisch studiert, auch die von Richard Wagner, denen er vor allem für seine Opern viel abgeguckt hat. Selbst in der 8. Sinfonie kann man, wenn man möchte, Wagner-Anklänge hören: Im ersten Satz stürmt der Held wie Jung-Siegfried in den Wald, um die Sprache der Vögel verstehen zu lernen. Im Schlusssatz fühlt man sich mit den neue Bilder ankündigenden Fanfaren ein wenig in die Meistersinger-Atmosphäre versetzt.
Der erste Satz beginnt mit einem choralartigen Thema der tiefen Streicher und Bläser. In der Dämmerung lässt sich der erste Vogel (Flöte) mit einem munteren Thema hören, viele Stimmen der Natur – nicht nur Vögel – erklingen gleichzeitig, jeweils mit charakteristischen Instrumentalfarben. Die Bewegung nimmt bis alles gemeinsam fröhlich dahinstürmt zu. Danach breitet sich eine eher nachdenkliche, etwas melancholische Stimmung aus, der ein ständiger schneller Wechsel zwischen Vorwärtsdrängen und Nachdenken folgt.Das ist typisch für Dvořák. Ein ehemaliger Kollege aus dem Prager Theaterorchester beschreibt ihn als „hitzigen, jähzornigen, ungeduldigen Charakter, der die Soli auf der Viola d’Amour im Freischütz und in den Hugenotten sehr hübsch spielte.“ Nach diesem Wechselbad der Gefühle gibt es heftige Fanfarenstöße und Dramatik in den Wellenbewegungen der Streicher, die in Halbtonschritten auf und ab stürmen. Bestimmt durch den großen Paukenwirbel haben Englischhorn, Flöte und die übrigen Holzbläser Entscheidendes das Sagen. Der Satz endet gut gelaunt.
Der 2. Satz beginnt mit einem Streicher-Rezitativ. Schumann würde vielleicht sagen: „Der Dichter spricht“. Ein Vogelruf taucht auf: nachdenklich, etwas zögerlich (Flöte und Klarinette). Darauf Donnergrollen und schmerzlich-heftige Streichereinwürfe. Der Wanderer pfeift ein Liedchen: eine absteigende Tonleiter mit anschließender Kadenz und setzt sich in Bewegung. Das Motiv wird ständig wiederholt, die Stimmung hellt sich langsam auf und mündet in einen bedrückenden Sologeigengesang. Eine Fanfare kündet ein Volksfest an, aber Schmerz und Trauer vom Anfang melden sich zurück. Dann geht es aber tröstlich weiter. Die Musiker nehmen ihre Begleitfigur wieder auf und bauen sie zur Tonleiter aus, die in verschiedenen Instrumenten gleichzeitig auf und absteigt. Wieder drohen Paukenschläge und Fanfaren, die einen triumphalen Schluss erwarten lassen. Stattdessen gibt es einen zaghaften Vogelruf, diesmal in den Streichern. Ende unentschieden!
Im 3. Satz beginnt der Wanderer mit einem Lied auf den Lippen beschwingt zu tanzen. In die Schublade „derb-böhmische Folklore“, die man von Dvořák zu seinem Leidwesen immer erwartete, passt dieser elegante Walzer in Moll aber nicht. In den Begleitfiguren scheint Wagners „Waldweben“ durch. Im Mittelteil des Satzes – jetzt endlich in Dur (Oboe und Streicher im Wechsel) – wird es mit dem widerständigen Rhythmus der begleitenden Instrumente schließlich doch noch typisch böhmisch.
Der Schluss lässt sich feurig an, endet alsdann aber überraschend ganz leise. Im Schlusssatz macht eine Theaterfanfare gleich klar, dass jetzt ein besonderes Schauspiel kommt. Ein Maskenzug mit Charakteren aus der tschechischen Geschichte? Das Auftauchen von Gestalten aus der eigenen Vergangenheit in der Rückschau? Unterschwellige Kritik an den politischen Verhältnissen? Bei jedem Hörer werden sich dazu eigene Bilder einstellen. Die Figuren ziehen in gemessenem Schritt ein, gefolgt von einer leicht überdrehten Musikkapelle. Nach einer kapriziösen Einzelfigur, dargestellt von der Flöte, zieht eine Art Janitscharentruppe mit fremdartig-archaischer Musik vorbei. Man könnte sich groteske Masken dazu vorstellen. Schließlich kommen zur Einzugsmusik vom Anfang wider gesetztere Gestalten – die Nachdenklichkeit aus dem ersten Satz kehrt zurück. Mit dem plötzlichen Einbruch der übermütig-aufmüpfigen Musikbanda ist es aber damit beendet. Sollte da das gute tschechische Bier eine Rolle gespielt haben? Mit einer furiosen Schlusssteigerung geht alles zu Ende.
Dvořák zog aus dieser Periode der Sammlung und Neubesinnung die Kraft, das große Abenteuer des Aufbruchs in die „Neue Welt“ jenseits des Ozeans zu wagen. Alles, was in der bis heute unerreicht populären 9. Sinfonie als revolutionär gepriesen wird, ist in der 8. eigentlich schon vorhanden. Vielleicht ist sie formal und inhaltlich sogar radikaler, wenn man die Zwischentöne in der Idylle nicht überhört. Dvořák musste gerade in dieser Zeit als Lehrer am Prager Konservatorium erfahren, dass die Habsburger Monarchie die tschechischen Lehrer zwang, mit ihren tschechischen Schülern Deutsch zu sprechen. (Kaum vorstellbar, dass sie das wirklich getan haben, wenn die Türen geschlossen waren.) Dazu musste er immer wieder, – meist erfolglos – mit Verlegern und Konzertveranstaltern um die beiden letzten Buchstaben seines Vornamens und um den Abdruck der tschechischen Titel kämpfen. Bis heute sind allʼ seine tschechischen Opern, Kantaten, Lieder und die meisten sinfonischen Dichtungen im Ausland weitgehend unbekannt. Kammermusiker in aller Welt lieben ihn dagegen heiß und innig und werden immer dafür sorgen, dass er nicht auf die slawischen Tänze als beliebte Zugabenstücke reduziert wird.