„Schottische“ Sinfonie Nr. 3
„Heute passierten das Rosenthaler Thor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude.“ (Eintrag im Torbuch im Oktober 1743). Das könnte der 14jährige Talmudschüler Moses Mendelssohn gewesen sein. Juden durften nur durch dieses Tor Berlin betreten und waren weitgehend rechtlos. Sie durften nicht einmal deutsche Bücher lesen. Moses Mendelssohn wurde dennoch der große Philosoph der Aufklärung und ging als „Nathan der Weise“ durch Lessing in die deutsche Literatur ein. Gelesen wird er trotz seiner klaren, verständlichen Sprache heute leider zu wenig. Mit seinem Brotjob als Buchhalter und späterer Teilhaber einer Seidenfabrik legte er auch den Grundstock zum späteren Reichtum der Familie. Sein Enkel Felix wächst in Berlin, auch durch die geistige Vorarbeit des Großvaters, unter weit günstigeren Bedingungen auf. Seit 1812 sind Juden in Preußen den übrigen Bürgern gleichgestellt. Felix'' Vater Abraham ist ein geachteter Bürger, als erster Jude wird er sogar ins Stadtparlament gewählt. Seine Kinder bekommen die besten Lehrer, der „Salon“ des Hauses Leipziger Str. 3 ist ein Treffpunkt der Geistesgrößen der neugegründeten Universität und vieler durchreisender Berühmtheiten.
Felix und die vier Jahre ältere Fanny erweisen sich bald als genial-begabte Musiker. Das „Wohltemperierte Klavier“ vom alten Bach saugen sie sozusagen mit der Muttermilch ein. Mutter Lea ist eine Schülerin des Bach-Schülers Kirnberger. Mit 10 Jahren komponiert Felix seine erste Sonate für 2 Klaviere. Mit 11 wird er in die Berliner Singakademie aufgenommen, mit 13 hat er bereits 8 Streichersinfonien nach dem Vorbild des Bachsohnes Carl Philipp Emanuel geschrieben. Sein Lehrer Carl Friedrich Zelter besitzt viele Manuskripte der Bach-Familie. In den neuen Sonntagskonzerten im Hause Mendelssohn kann Felix alles gleich mit den besten Musikern der Hofkapelle ausprobieren. Fanny und er treten als Pianisten neben den größten Künstlern der Zeit auf. Die neueste Klaviermusik kommt druckfrisch ins Haus. So entstehen viele Konzerte, Kammermusik und Streichquartette, die ihre Vorbilder erstaunlich eigenständig weiterentwickeln und experimentierfreudig zu neuen Formen finden. Spätestens mit dem Oktett für Streicher und der Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum hat der 17-jährige Meister seinen eigenen unverwechselbaren Ton gefunden.
Nebenbei ist er auch ein begabter Zeichner, übersetzt Verse aus dem Griechischen druckreif ins Deutsche, treibt Sport und tanzt „wie ein gebildeter Sturmwind“ (Rahel Varnhagen). In den Freitagsmusiken der Singakademie werden im kleinen Kreis vergessene Werke von Sebastian Bach geprobt. Niemand glaubt damals, dass man so etwas Veraltetes und Unverständliches einem größeren Publikum zumuten könne. Felix beweist 1829 mit der 1. Aufführung der Matthäus-Passion nach hundert Jahren mit großem Erfolg das Gegenteil. Einer Zukunft als Berufsmusiker steht sein Vater aber noch skeptisch gegenüber. Er schickt ihn erst mal auf Reisen. Im April bricht Felix nach London auf, die „Sinfonie von Rauch und Stein“ fasziniert ihn. „London ist das grandioseste Ungeheuer, das die Welt trägt!“ Berlin ist ein Dorf dagegen. Er beobachtet genau: die feine Gesellschaft und die vielen Bettler, überfüllte Postkutschen und Menschen mit großen Reklame-Schildern, den allgegenwärtigen Nebel und den Lärm, den regen Verkehr auf der Themse, Dampfschiffe mit einklappbaren Schornsteinen und große Wiesen mit Kühen mitten in der Stadt. Er ist aber nicht zum Spaß da. Seine öffentlichen Konzerte als Pianist und Dirigent eigener Werke machen großen Eindruck. Das Wichtigste sind aber endlose private Einladungen, nebenbei auch Kontaktpflege der Kunden des Bankhauses Mendelssohn. Danach geht es mit seinem Freund Karl Klingemann, einem in London tätigen Diplomaten, weiter zur Bildungsreise nach Schottland. Das ist Freiheit und Abenteuer pur: die erste selbstorganisierte Reise des 20jährigen, natürlich auf den Spuren von Literatur und Geschichte. Er besucht Sir Walter Scott, den Lieblingsautor seiner Mutter, dessen Romane auch er verschlungen hat. Er selbst hat Jean Pauls „Flegeljahre“ dabei, das Kultbuch der jungen Romantiker. Natürlich auch den Zeichenblock. Nach dem Besuch von Holyrood bei Edinborough, dem verfallenen Schloss der Maria Stuart, schreibt er nach Hause: „Es ist da Alles zerbrochen, morsch, und der heitere Himmel scheint hinein. Ich glaube, ich habe heut da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.“ Eine Woche später nach dem Besuch der Fingalshöhle auf der Hebriden-Insel Staffa skizziert er den Anfang seiner Hebriden-Ouvertüre. Die raue und großartige Natur bedeutet aber nicht nur Vergnügen. „Gestern war ein guter Tag. Ich wurde nur dreimal völlig durchnässt.“ In den Herbergen ist es dumpf und feucht, das Wasser rinnt gelegentlich die Wände runter. Wenn sie länger festsitzen, plagt den Überaktiven trotz des guten Whiskys die Langeweile. Scheint die Sonne dann mal 2 Tage lang, staunt er über die Veränderung der Landschaft. Sie gehen zu Fuß über die Berge nach Inverary, schwimmen im offenen Meer, das viel salziger ist als die Ostsee in Bad Doberan, sehen sich Loch Lomond und den Berg Ben Lomond an, das Wahrzeichen des Hochlandes.
Bis zur Vollendung der „Schottischen Sinfonie“ sollten jedoch fast 13 Jahre vergehen. Im sonnigen Italien, dem nächsten Reiseziel, wollte sich die nötige Stimmung verständlicherweise nicht einstellen, danach hatte er als Pianist, Dirigent, Komponist und Leiter von Musikfesten u. a in Düsseldorf, Köln, Aachen und immer wieder in England, viel zu viel zu tun. Erst 1842, als er in Leipzig am Gewandhaus eine musikalische Heimat gefunden hatte, die auch seinen hohen Ansprüchen genügte, war es soweit. Er hatte ausgezeichnete Musiker und ein anspruchsvolles Publikum, das auch seine historischen Konzerte mit Werken von Bach, Mozart und Beethoven zu schätzen wusste. So wurde er zum Erfinder des heute üblichen Konzertlebens und gründete auch die Musikhochschule, die heute seinen Namen trägt. Die „British Isles“ und das „rauchige Nest“ London blieben für Mendelssohn aber immer ein Lieblingsaufenthaltsort. Seine großen Oratorien Paulus und Elias gehen auf die Erfahrung von Händel-Oratorien mit den ausgezeichneten englischen Chören zurück. Die Schottische Sinfonie widmete er der Königin Victoria und führte sie schon bald in London auf. Den Briten gilt er heute noch fast als einer der Ihren. Besonders die großen Romantiker hat er stark beeinflusst.
Der plötzliche Tod seiner geliebten Schwester Fanny im Mai 1847 durch einen Schlaganfall traf Felix so schwer, dass er sich davon nicht mehr erholte. Ein halbes Jahr später starb er ebenfalls nach mehreren Schlaganfällen im Alter von 37 Jahren.
Jeder Leser liest sein Buch, nicht mein Buch. (Martin Walser) 2016
„Die Leute beklagen sich gewöhnlich, die Musik sei so vieldeutig...- Mir geht es aber gerade umgekehrt. ...Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, sondern zu bestimmte....“ (Mendelssohn) 1842
Er beginnt mit dem in Holyrood gefundenen Thema im Balladenton in der dunklen, etwas verhangenen Klangfarbe von Bratschen und Holzbläsern. Die Geigen umspielen es dann mit einer bewegten Gegenmelodie. Mit einer lebhaften Variante des Hauptthemas nimmt die Musik Fahrt auf, bis sie sich am Schluss des Satzes zu einem veritablen Sturm steigert. Die Stimmung wechselt in der ganzen Sinfonie - wie das Wetter im schottischen Hochland- überraschend schnell zwischen Melodien im Volkston, tänzerischen Episoden und plötzlich losbrechender Dramatik. Zwar stehen die meisten Sätze in der klassischen Sonatenform, die Themen sind aber auf andere Art gegensätzlich als z. B. bei Beethoven. Es sind Liedmelodien unterschiedlicher Stimmung, die sehr kunstvoll kontrapunktisch, aber immer natürlich weiterentwickelt werden. Gleich im ersten Satz kommt eine längere Schlussgruppe (Coda) mit einem ganz neuen Thema dazu, bevor das Anfangsthema sich noch einmal in Erinnerung ruft. Das leicht dahinhuschende Scherzo, entgegen der Konvention an 2. Stelle stehend, fordert die Finger- und Bogentechnik der Streicher und die Zungenfertigkeit der Bläser zu Höchstleistungen heraus. Zum Glück hat der Komponist „non troppo, nicht zu sehr“, dazugesetzt. Es müssen sehr leichtfüßige Tänzer sein, die hier ihr Sommernachtsfest feiern. Auch wenn die von der Klarinette angestimmte Dudelsackmelodie sehr authentisch klingt, es ist echter Mendelssohn. “Zehntausend Teufel sollen doch alles Volkstum holen!“ Von dem „gemeinen, infamen, falschen Zeug“ das er in den Hotels zu hören bekomme, kriege er allenfalls Zahnschmerzen. Das Thema wird wie bei einem schnellen Ballspiel im Orchester hin und her geworfen und sehr geistreich durchgeführt, bis der fröhliche Lärm zum Schluss leise verklingt. Im langsamen 3.Satz singt ein Barde zu Harfen- oder Lautenbegleitung (gezupfte Saiten der Streicher) einen innigen Gesang, der im 2. Teil aber auch von dramatischen Ereignissen erzählt. Den letzten Satz hat Mendelssohn „Allegro guerriero“, also „kriegerisches Allegro“ überschrieben. Hier wird“vivacissimo“, also „äußerst lebhaft“ mit spitzen, klirrenden Waffen gefochten. Ein Fanfarenthema, schnelle Triolen als Untergrund und zackige Fugenthemen liefern sich einen fröhlichen Wettstreit. Blutrünstig klingt das nicht. Alles klar, hell, geistreich und optimistisch. „Ergreifet die Waffen des Lichts!“ heißt es in der zuvor entstandenen Sinfonie-Kantate „Lobgesang“(1840). Am Ende hat sich der schottische Nebel gelichtet, ein majestätischer Choral, „wie ein Männerchor“ erklingt, ein 2. neues Fanfarenthema krönt das grandiose Finale.
„In der höchsten Erhitzung muss das Genie noch die Zügel in der Hand halten!“
Moses Mendelssohn.