Sinfonie Nr. 5 in e-Moll
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky gibt uns in seinem Briefwechsel mit Nadjeschda von Meck, einer reichen Gutsbesitzerin, die ihm durch eine großzügige Jahresrente ungestörtes Schaffen ermöglichte, einige Einblicke in die Werkstatt des Komponisten.
„Vor allem missfällt mir, dass sie die Wirkung der Musik mit einem Rauschzustand vergleichen. Ich glaube, der Vergleich ist falsch. Musik ist keine Täuschung, sie ist Offenbarung. Sie erhellt unser Dasein und schenkt uns Freude.
Sie fragen mich, ob dieser Sinfonie ein bestimmtes Programm zugrunde liegt? Meistens beantworte ich derartige Fragen mit Nein. Es ist auch wirklich schwer, darauf eine Antwort zu geben. Wie soll man die unklaren Gefühle beschreiben, die einen bewegen, wenn man ein Instrumentalwerk ohne ein bestimmtes Sujet komponiert? Das ist ein rein lyrischer Vorgang, eine musikalische Beichte der Seele, die sich in Tönen ergießt, ähnlich wie sich ein lyrischer Dichter in Versen ausspricht. Der Unterschied besteht nur darin, dass der Musik unvergleichlich reichere Ausdrucksmittel und eine feinere Sprache zur Wiedergabe seelischer Regungen zur Verfügung stehen.
Meist erscheint das Samenkorn des zukünftigen Werkes urplötzlich, ganz unerwartet, und ist der Boden fruchtbar, das heißt Arbeitsstimmung vorhanden, so fasst es mit unvergleichlicher Kraft Schnelligkeit Wurzeln, schießt aus der Erde hervor, treibt Zweige, Blätter und schließlich Blüten.
Es wäre vergeblich, Ihnen die Seligkeit zu schildern, wenn der Hauptgedanke empfangen ist und eine bestimmte Form anzunehmen beginnt. Man vergisst alles andere, ist wie besessen, alles zittert und bebt, man hat kaum Zeit, die Einfälle aufzuzeichnen, ein Gedanke folgt dem andern.
Würde der seelische Zustand des Komponisten, den ich als Inspiration bezeichnet habe, ununterbrochen anhalten, so wäre es unmöglich auch nur einen weiteren Tag zu leben. Die Saiten würden reißen und das Instrument würde zerspringen!
Meine Entwürfe schreibe ich auf dem ersten besten Blatt Papier, manchmal auf einem Fetzen Notenblatt in sehr abgekürzter Form. Eine Melodie taucht in Gedanken stets mit der dazugehörigen Harmonie auf. Diese beiden Elemente der Musik und auch der Rhythmus können nie voneinander getrennt werden.
Was im ersten Feuereifer entworfen wurde, muss nachher kritisch beurteilt, verbessert, ergänzt und vor allem gekürzt werden, wie es die Form verlangt. Zuweilen muss man sich Gewalt antun, unbarmherzig und grausam gegen sich selbst sein und Partien kürzen, die mit Liebe und Begeisterung komponiert wurden. Über den Mangel an Phantasie und Erfindungsgabe kann ich mich nicht beklagen, doch es hat mir oft an der letz-ten Beherrschung der Form gefehlt, und nur durch eisernen Fleiß gelang es mir allmählich zu erreichen, dass die Form meiner Werke dem Inhalt entspricht."
Zwischen der 4. und der 5. Sinfonie (1888) liegen mehr als 10 ereignisreiche Jahre, vor allem die große persönliche Katastrophe einer mißglückten Heirat, mit der er seine Homosexualität nach außen tarnen wollte, und ein Selbstmordversuch. Dem folgte ein unruhiges Wanderleben durch Europa, wachsender Ruhm und unermüdliches Schaffen. Neben dem Klavier- und Violinkonzert, mehreren Opern und Balletten schrieb er 1885 eine Programm- Sinfonie, sein längstes und radikalstes Orchesterwerk, nach Lord Byrons großem Gedicht Manfred. Bereits hier spielt ein Leitmotiv, das immer wieder auftaucht, eine große Rolle.
Wovon spricht nun die ganz nach klassischem Muster geformte 5. Sinfonie? Neben die Skizze des Hauptthemas schreibt Tschaikowsky: „Zweifel, Klagen, Vorwürfe". Dieses „Schicksalsthema" durchzieht das ganze Werk. Es redet vom Kampf um den eigenen Weg, von Liebe und Leidenschaft, vergeblichen Aufschwüngen, Ruhe in der Natur und Glück mit vertrauten Menschen, Walzerträumen und beunruhigenden Gedanken. Natürlich auch, wie schon die Tonart andeutet, vom Tod, den der vorzeitig gealterte Tschaikowsky unerbittlich nahen fühlte, von der Einsamkeit im fröhlichen Getümmel, vor allem aber unermüdlicher Schöpferkraft, der noch so viel zu sagen bleibt.