"Rhapsody in Blue"

Als George Gershwin 30 Jahre später seine „Rhapsody in Blue“ schreibt, hat sich der Broadway grundlegend gewandelt. Die Wolkenkratzer werden immer höher, aus den Operetten sind Musicals geworden. Der Jazz hat sich durchgesetzt und wird zunehmend auch von weißen Musikern erobert. George Gershwin, 1898 in Brooklyn geboren, Sohn russischer Einwanderer, ist in einem armen jüdischen Viertel mit viel Straßensport und wenig Musik aufgewachsen. 1910 schaffte man für den älteren Bruder Ira, den späteren Textdichter des erfolgreichen Gershwin-Teams, ein Klavier an. Ab 1912 bekam George Unterricht bei Charles Hambitzer, der ihn mit Chopin, Liszt, Debussy und etwas Theorie bekannt machte. Ab 1914 arbeitete George bei einem kleinen „Tin Pan Alley“-Verleger als Pianist und „Song-plugger“. Zwei Jahre später schrieb er bereits eigene Songs für den Broadway, 1919 folgte das erste Musical und mit „Swanee“ kam der Durchbruch als Songwriter und bis dahin ungekannte Verbreitung durch das neue Medium der Schallplatte.

1924 regte ihn der „King of Jazz“ Paul Whiteman dazu an, für ein Crossover-Konzert ein „Experiment in modern music“ zu versuchen. Drei Wochen hatte er Zeit dazu. Er nannte es „Rhapsody in Blue“ wegen der freien Form mit viel (aufgeschriebener) Improvisation und den jazz-typischen „blue Notes“ mit ihrem Schwanken zwischen Dur und Moll. Nach eigener Aussage fiel ihm die Gesamtkomposition bei einer Zugreise nach Boston ein: „Ich hörte es als eine Art musikalisches Kaleidoskop von Amerika, unserem riesigen Schmelztiegel.“ Gershwin nutzt typische virtuose Klaviereffekte mit Synkopierungen und „Walking Bass“ und liebt Parallelbewegungen in den Mittelstimmen. Man findet Ragtime-Rhythmen und „Cuban-Clave“, reichlich Rubato und flexibles Tempo, was die Aufgabe für Pianist und Musiker nicht einfach macht. Die Harmonik ist traditionell, es gibt aber unaufgelöste Septakkorde und unvorbereitete Rückungen der Tonalität. Mehrere stark synkopierte Motive überlagern sich, trotzdem ist alles gut durchhörbar.

Das Mammut-Uraufführungskonzert enthielt 26 Stücke, die Klimaanlage fiel aus und die Rhapsody war das zweitletzte Stück. Das berühmte Klarinettenglissando aber weckte die unruhig gewordenen Hörer sofort und es wurde ein überwältigender Erfolg. Das Glissando, ursprünglich in 17 Einzelnoten notiert, war übrigens eine Erfindung des Klarinettisten Ross Gorman. Gershwin gefiel es. Da er noch wenig Erfahrung mit Orchestrierung hatte, ließ er das Arrangement für Jazzband von Ferdi Grofé anfertigen. Wir spielen es heute in einer Fassung für Sinfonie-Orchester. Die klassikgewöhnten Kritiker fanden darin zu wenig thematische Arbeit und Entwicklung, denn Gershwin setzt nach Art des Jazz die Motive nebeneinander. Quasi-improvisierte Teile werden durch Pausen effektvoll gegliedert. Gershwin nahm sich die Kritik aber zu Herzen und bat wirklich alle guten klassischen Komponisten um Unterricht. Zum Glück ließen ihn alle mit dem gleichen Argument abblitzen, das Maurice Ravel auf den Punkt brachte: „Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden, wo Sie doch ein erstklassiger Gershwin sind.“ So blieb er authentisch, bestand aber darauf, alle weiteren Stücke selbst zu arrangieren, Hilfe von Profis natürlich nicht ausgeschlossen. Gershwin war ein überragender Improvisator, aber auch ein exzellenter Blattspieler von klassischen Stücken, die er allerdings niemals öffentlich aufführte. Er ging häufig in klassische Konzerte, spielte Bachs Klavier-Toccaten und gerne vierhändige Arrangements von Bachs Orgelmusik, Mozarts und Schuberts Streichquintetten. Von Alban Bergs Klaviersonate, die er 1928 in Berlin gehört hatte, war er so begeistert, dass er den Komponisten spontan aufsuchte. Er traute sich aber nicht, Berg etwas vorzuspielen, bis dieser ihn ermunterte: „Musik ist Musik!“ Gershwin liebte auch Bergs spätere Werke und besuchte jede erreichbare Aufführung der Oper „Wozzeck“. Ab 1926 sammelte Gershwin zeitgenössische Kunst, u. a. von Picasso und Chagall und begann selbst zu malen. Schließlich verbrachte er damit die Hälfte seiner Zeit. 1937 starb er nach kurzer Krankheit an einem Hirntumor.