Sinfonie Nr. 9 "Aus der Neuen Welt"

1841, in Dvořáks Geburtsjahr, fuhr der erste Raddampfer auf der Moldau, ein Jahr später das erste Dampfschiff von Bremerhaven nach New York. Antonín beobachtete als kleiner Junge interessiert den Bau der Bahnstrecke Prag-Dresden in seinem Heimatort Nehalozeves an der Moldau unweit von Prag. Er lernte bei seinem Vater, einem Gastwirt und Metzger „Schafe und Ochsen zu kaufen, zu schlachten und abzuhäuten“, aber auch Geige spielen beim Dorflehrer. Bald spielte er in der Dorfkapelle zum Tanz auf, manchmal auch kleine Soli in der Kirche. Sein Vater, selbst Zitherspieler, ermöglichte seinem hochbegabten Ältesten trotz ständig knapper Kasse eine Ausbildung beim Kantor Anton Liehmann in Zlonice, um Klavier, Orgel und Deutsch zu lernen, denn in der Donaumonarchie gab es höhere Bildung nur auf Deutsch.

Mit 16 ging Dvořák mit wenig Geld nach Prag auf die Orgelschule. Nebenbei spielte er die Bratsche im Orchester des Prager Cäcilienvereins, wo Profi und Hobbymusiker gemeinsam große klassische Meisterwerke aufführten. Für Dvořák war alles Neuland. Die Orgelschule schloss er als Zweitbester ab, bekam aber trotzdem keine Stelle als Organist. Daher schlug er sich als Bratscher beim bekannten Unterhaltungsorchester von Karl Komzak durch. Dort lernte er jede Art von Musik kennen, begegnete berühmten Musikern wie Franz Liszt, Clara Schumann oder Hans von Bülow, und erlebte Richard Wagner als Dirigent eigener Werke. Das Orchester spielte auch im kleinen Interimstheater, „Streichholzschachtel“ genannt, wo jeden Tag Schauspiele und Opern in tschechischer Sprache aufgeführt werden durften. Während der ganzen Zeit komponierte Dvořák fleißig, vernichtete aber das meiste, weil es ihm nicht ausgereift genug erschien. Ein Orchesterkollege besaß viele Partituren, an denen Dvořák Instrumentation und musikalische Form studierte. Mit einer patriotischen Kantate verschaffte er sich 1872 endlich Anerkennung als Komponist. Der internationale Durchbruch kam durch die Bekanntschaft mit Johannes Brahms und dem Verleger Simrock. Die Begeisterung für die Eisenbahn behielt Dvořák sein Leben lang. Er benutzte sie gern und häufig, fuhr neun mal nach England auf Einladung der Londoner Philharmonischen Gesellschaft, natürlich nach Wien, Leipzig, Berlin, aber auch nach St. Petersburg und Moskau. Auf seinem Landgut „Vysoka“ ging der Frühaufsteher morgens um 4 in den Wald, um den Vögeln zuzuhören, bevor er zwei Stunden arbeitete und dann in der Frühmesse die Orgel spielte. In der Stadt dagegen zog ihn der Bahnhof an. Er sammelte die Nummern der Lokomotiven, studierte die Fahrpläne und sprach mit den Lokführern.

„Am liebsten habe ich diesen wunderbaren und großen Sinn für Präzision, mit dem die Lokomotive gebaut wird. Sie ist aus so vielen verschiedenen kleinen Teilen gebaut, und jedes hat seine Bedeutung, jedes ist an seinem Platz“, sagte er zu seinem Kompositionsschüler Josef Michl. Das gilt auch für Dvořák Werke. Jedes Instrument hat nach seiner Art seinen Teil beizusteuern. Viele kleine, immer wieder leicht abgewandelte Motive werden übereinandergeschichtet. Dennoch klingt das Ganze einfach und gut durchhörbar. Dahinter steckt enorm viel Können und Arbeit. 1891, inzwischen ein berühmter Mann, bekam Dvořák ein Telegramm aus New York mit dem Angebot für 15 000 Dollar Jahresgage (das war das 25-fache seines Prager Gehaltes) dort Direktor des neugegründeten Konservatoriums zu werden.

„Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir, vor allem soll ich ihnen den Weg ins gelobte Land und in das Reich einer neuen selbstständigen Kunst weisen, kurz eine nationale Musik schaffen“, schreibt er in einem Brie nach Hause. „New York ist eine riesige Stadt, fast wie London, das Leben auf den Straßen ist vom Morgen an und fast die ganze Nacht über sehr bunt und lebhaft.“ Hier ist es der wenige Minuten entfernte Hafen, der ihn anzieht. Auch gibt es in der Nähe in „Scheffels Beer Hall“ sogar tschechisches Bier. „Montag, Mittwoch und Freitag habe ich früh von 9-11 Uhr Komposition zweimal wöchentlich Orchester von 4-6 Uhr und die übrige Zeit habe ich zu meiner Verfügung.“ Einer seiner acht Schüler ist Rubin Goldmark, später u. a. Lehrer von George Gershwin und Aaron Copland. Mit dem Orchester spielt er z. B. die frühen, zu seiner Zeit völlig unbekannten Sinfonien von Franz Schubert.

Vom afroamerikanischen Gesangslehrer Harry Burleigh lässt er sich Spirituals vorsingen. Bei „Go down Moses“ sagt Dvořák „Das ist genauso gut wie ein Thema von Beethoven.“ Auch liest er das Indianerepos „Das Lied von Hiawatha“ von Longfellow, um es vielleicht zu vertonen. Noch hat er aber New York nicht verlassen. Die großartige amerikanische Natur und die Gesänge und Tänze der Indianer wird er erst später bei der Fahrt in die Sommerferien nach Spilville in Iowa kennenlernen. Nach sieben Monaten New York schreibt er: „Eben beende ich die neue Sinfonie in e-Moll. Sie macht mir große Freude und wird sich von meinen früheren grundlegend unterscheiden. Nun, wer eine ‚Spürnase‘ hat, muss den Einfluss Amerikas erkennen.“ „Der moderne Geschmack fordert für die Musik, dass sie knapp, verdichtet und kraftvoll sein soll.“ Vier Tage vor der Uraufführung schreibt er am 12.12.1893 im New York Herald: „Ich habe nur eigene Themen geschrieben, denen ich die Besonderheiten der Indianermusik lieh. Ich habe sie mit allen Errungenschaften der modernen Rhythmik, Harmonik und Kontrapunktik sowie des Orchesterkolorits zur Entwicklung gebracht.“

Auf den ersten Blick ist die Sinfonie ganz nach den Regeln der Klassik aufgebaut. Wenn man genauer hinhört, entdeckt man jedoch viele kleine Besonderheiten und originelle Neuerungen. Dvořák ist in seiner letzten Sinfonie deutlich auf dem Weg zur sinfonischen Dichtung. Die Reise in die aufregende „Neue Welt“ beginnt mit einer ganz leisen, dunklen Streichermelodie. Schon bald aber fährt ein heftiges rhythmisches Signal mit anschließenden Paukenschlägen dazwischen. Der Aufbruch ins Neuland scheint nicht allzu gemütlich zu werden. Das synkopische Motiv mit dem „Teufelsintervall“ Tritonus steigt immer höher und geht in ein prägnantes, auf und absteigendes „Neue-Welt“-Dreiklangs-Thema über. Zuerst erscheint es in melancholischem e-Moll, um weiter gesponnen in ein gesangliches Thema der freudigen Erwartung zu münden. In der ganzen Sinfonie gibt es, wie bei einer Fahrt durch hügeliges Gelände eine ständige Abwechslung zwischen energischem Vorwärtsdrängen und Rückkehr in die kontemplative Stille. Mit viel Dampf fährt der Zug schließlich in den ersten Haltepunkt ein. Im 2. Satz geht es deutlich ruhiger weiter. Aus choralartigen Bläserakkorden wie aus alter Zeit steigt eine wunderbar-melancholische Englischhornmelodie zu leiser Streicherbegleitung aus der Ferne auf. Im ersten Entwurf hieß der Satz „Legenda“. Vielleicht hören wir hier Hiawathas Trauergesang, jedenfalls sind wir in der Natur (Hörnerklang) in einer archaisch-fremdartigen Landschaft. Kontrabass-Pizzicati zu flirrendem Streichertremolo lassen bange Gedanken aufkommen. Doch nach plötzlicher Aufhellung nach Dur mündet die lustige Oboenmelodie in einen feurigen Tanz. Auch wenn sich das „Neue-Welt“-Thema energisch wieder meldet, hat doch der betörende Englischhorngesang das letzte Wort. Allerdings nicht ganz, denn drei Solostreicher bringen die Musik langsam und stockend zum Verstummen. Das allerletzte Wort haben vier Kontrabässe allein mit einem Akkord in der Tiefe. Im Scherzo nimmt die Musik mit einem lustigen Tanzmotiv fröhlich Fahrt auf durch eine liebliche, abwechslungsreiche Landschaft, sei es in Böhmen oder in Iowa. Man hört rhythmisches Stampfen. Ein knappes Motiv saust durch die Stimmen, das „Neue Welt“-Thema vom Anfang taucht auf, diesmal ganz lyrisch, dann geht es in einen gemütlichen Ländler über. Der stammt eher aus der „Neuen Welt“ in Prag, einem Stadtviertel mit vielen Kneipen und böhmischer Tanzmusik. Man hört Naturlaute und Vogelrufe, die Musik nimmt Fahrt auf, am Ende lassen die Bratschen allein die Bewegung auslaufen. Der 4. Satz bringt uns – volle Fahrt voraus – zurück in die betriebsame Welt der Großstadt. Alle bisherigen Themen tauchen wieder auf, kombiniert mit neuen, typisch tschechischen Klängen. Das Heimweh hat Dvořák gepackt. Er erwartet sehnsüchtig die Ankunft seiner Kinder, die er so lange nicht mehr gesehen hat. Wieder sind es die Bratschen, die die Dramatik mit einem auf immer höherer Stufe wiederholten Motiv vorantreiben, bis sich das Hauptthema in den Bläsern zur siegreichen Fanfare steigert. Dvořák kann die Reinschrift der Partitur gerade noch beenden, bevor das Schiff mit seiner Familie in den Hafen einläuft. Vor Aufregung vergisst er im letzten Satz die Posaunen einzutragen.